Planet der Frauen
Content Notes: Biologismus, cis-Sexismus, Misgendern, Binarism, Rassismus, Gate Keeping, Trans-/Interfeindlichkeit, Tone Policing
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Inhalt
Die Geschichte geht um das Gate Keeping trans maskuliner Menschen, trans und inter* Männer und nicht-binärer Menschen aus feministischen Projekten/Netzwerken. Es ist eine OwnVoice Fantasy/Science Fiction Kurzgeschichte in einer Parallelwelt mit fortgeschrittener Technologie und mit Völkern wie Orks, Menschen, Lobbuds. Der Hauptcharakter Karian ist nicht-binär und bewirbt sich bei einem Projekt, dem "Planet der Frauen", bei dem eine Welt ohne Männer simuliert werden soll. Die Welt hat Ähnlichkeiten mit der in meinem Hauptwerk "Myrie Zange", aber spielt mindestens ein paar Jahrzehnte vor der Handlung der Romanreihe, bevor die Gesellschaftsutopie ansetzt.
Hintergrund
Ich habe diese Geschichte geschrieben, weil mir dieses Gate Keeping seit über sieben Jahren ständig passiert und sie vieles sehr plastisch und weder geschönt noch dramatisiert darstellt, was ich erlebe. Ich habe die Geschichte an die Queer*Welten eingereicht, weil ich denke, dass diese Problematik ein großes Publikum erreichen und eine Plattform haben sollte, sodass mehr Verständnis dafür entstehen kann, wenn von Transfeindlichkeit und damit zusammenhängendes Gate Keeping geredet wird. Sie wurde dort nicht genommen, mir wurden Gründe dafür genannt. Darum geht es hier nicht, das soll keine Beschwerde darüber sein, dazu fühle ich mich nicht in der Position. Ich veröffentliche die Geschichte nun hier, damit sie ein Publikum finden kann, wenn sie möchte, und nicht in meinen Entwürfen alt wird. Für die Queer*Welten hatte ich eine Zeichenbegrenzung von 20 000. Ich habe sie annähernd ausgeschöpft. Im Fall, dass ich sie nicht gehabt hätte, hätte ich sicher einiges etwas mehr ausgeführt, aber ich stelle die Geschichte in der Art zur Verfügung, wie ich sie eingereicht habe.
Die Geschichte - Planet der Frauen
"Wir leben in patriarchalen Strukturen. Daran wird sich so bald nichts ändern - oder
doch? Mit ausgereifter Technik für Virtualitäten und den ersten großen
soziologischen KI-Simulationen können wir aufzeigen, wie sich unsere Welt ohne
Männer entwickeln würde. Wir zeigen, was das Patriarchat versteckt. Bist du
Wissenschaftlerin im Bereich Informatik, Soziologie, Psychologie, Biologie
oder Physik oder hältst dich aus anderen Gründen für geeignet, das Projekt
zu unterstützen? Dann bewirb dich gern beim 'Planet der Frauen'."
Der Text tat sem nach dem drölften Lesen nicht weniger weh. Jedes
Mal, wenn sey ihn las, fand sey noch eine weitere versteckte Stelle, die
internalisierte Transfeindlichkeit und binäres Denken
widerspiegelte. 'Zeigen, was das Patriarchat versteckt'. Als ob
die Stimmen und Geschichten von trans Männern nicht unsichtbar gemacht
würden. Sey war genderfluid, schwankte
irgendwo zwischen einem nicht auf der männlich-weiblich-Geraden
liegenden Geschlecht, das sey maverique nannte, und männlich hin und
her. Das Konzept war für die meisten zu kompliziert, daher kürzte
sey es meistens mit trans nicht-binär ab. Auch das war für viele
immer noch kein Begriff, und das obwohl Misgendern es vor bereits neun Jahren
in das geschriebene Gesetz als Bruch des Würdegrundsatzes geschafft hatte. Bei
der Festlegung war ausdrücklich auch von nicht-binären Geschlechtsidentitäten
und Neopronomina die Rede gewesen. Die Diskussionen waren von KIs aufgearbeitet
und in einfacher Sprache zusammengefasst worden und frei zugänglich
im Netz. Es ärgerte sem, dass ein feministisches Forschungsteam
es nicht auf die Reihe bekam, einen Text inklusiv zu schreiben. An sich
war es ein interessantes Projekt, wäre es denn intersektional feministisch. Deshalb
hatte sey sich beworben, immerhin hatte sey theoretische Informatik
studiert. Sey hatte in der Bewerbung direkt die Hoffnung geäußert, dass
es sich dabei um eine Unachtsamkeit und keine Absicht handelte. Wenn es
nur unbewusst passiert wäre, wäre sey erfreut, wenn sere Hilfe angenommen würde, das
Gate Keeping anzugehen. Es machte sem Hoffnung, dass sey
für eine Testwoche nach Fork eingeladen worden war, wo sey vor Ort
mit den anderen Forschenden interagieren könnte. Und nun saß sey im Zug
in diese Metropole.
Ein kleiner Ork schritt den Gang des Zuges entlang und blieb bei serer
Sitzgruppe stehen. Sey blickte in ein freundlich wirkendes
Gesicht auf.
"Bist du Karian?", fragte der Ork.
Sey lächelte. So einfach der Name Karian auch erschien, selten sprachen
ihn Personen bei den ersten Malen richtig aus. Manche nie. Eigentlich
war Falschaussprechen harmlos formuliert.
"Und du bist Mathia?", fragte sey vorsichtig, in der Hoffnung, dass sey
den Namen ebenfalls nicht falsch aussprach.
"Ja, bin ich!", sagte Mathia und setzte sich sem gegenüber.
Mathia arbeitete schon eine Weile im Team mit. Sie hatte Karian in
der Antwort auf die Bewerbung versichert, auf serer Seite zu stehen, aber
dass es vielleicht nicht leicht werden würde. Und auch, dass sie
oft Schwierigkeiten hatte, vor anderen zu sprechen und es ihr daher
schwer fiel, das Problem selbst im Gespräch anzugehen. Nun sahen sie
sich das erste Mal persönlich.
Fork war eine einzige Baustelle. Der Zug fuhr deshalb auf einem anderen
Gleis ein, als geplant, erreichte die Metropole aber immerhin pünktlich. Der
Innenstadtbereich wurde vorsichtig auseinander und wieder zusammengesetzt, um Technik zu
verbauen, die die gesamte Innenstadt mit elektromagnetischen Feldern durchsetzen
sollte. Dazu mussten auch stützende Stahlelemente in den Häusern gegen anderes
Material ausgetauscht werden. Sinn und Zweck des Ganzen war, ein
Mischerlebnis zwischen Virtualität und Realität zu ermöglichen. Es war die gleiche
Technik, mit der Virtualitäten fühlbar gemacht wurden. Karian war
sich noch nicht sicher, was sey davon hielt. Dass Personen höhere Stockwerke
schwebend erreichen konnten, statt Aufzüge zu nutzen, erschien sem diesen Aufwand eher
nicht wert.
Zum anderen baute Fork an einer Möglichkeit, die Schwebebahn an die Fernzüge zu
koppeln. Das hätte zur Folge, dass am Bahnhof nicht mehr vom einen ins
andere Verkehrsmittel umgestiegen werden müsste. Die Schwebebahnkapseln
des Nahverkehrs wären bereits Teil der Fernzüge und würden bei
Ankunft in Fork an das Nahverkehrssystem andocken. Dazu
hatte es über Jahre politische Diskussionen gegeben, weil Fork einen neuen
Fernzugtyp erforderlich machte - aber Forks Regierung war überzeugend gewesen und
hatte gewonnen. Zurecht, wie Karian fand. Es wäre auch
barrierefreier, von außerhalb zu einem bestimmten Ort in Fork
zu reisen, wenn ein Umstieg dafür in diesem überfüllten, mehrstöckigen Bahnhof
obsolet würde.
Mathia führte sem zielsicher vom Bahnsteig des Fernzugs in einen Aufzug, von diesem
durch unübersichtliche Gerüste und Bauschutt in
einen anderen Aufzug und von dort auf einen von vielen Bahnsteigen, um mit der
Schwebebahn zur Spielhalle zu gelangen, in der innovative Virtualitäten
und Simulationen getestet wurden. Der 'Planet der Frauen' wurde
im vierten Stock durch das gleichnamige Team simuliert, für das
sey sich beworben hatte - mit Dysphorie dabei, weil sey ja
gar keine Frau war, und mit der Auflage, dass sey nicht eintreten
würde, bevor sich das Team um eine andere Namensgebung gekümmert
hätte.
Die Spielhalle war ein hoher, weiter, angenehm dunkler Raum. Im
hinteren Teil waren wohl einige in der Virtualität. Sie trugen
VR-Brillen und die Anzüge, die mit dem elektromagnetischen Feld
zusammen die Virtualität haptisch realisierten. In einer anderen
Ecke saßen einige Personen um einen Tisch. Mathia führte sem zu einem
kleineren neben dem Eingang.
"Hier kannst du deinen Namen eingeben. Es druckt dir ein Label, das
du dir an der Kleidung festheften kannst", erklärte
sie.
Karian besah sich den Drucker, der nur ein Eingabefeld hatte
und blickte dann auf Mathias Label. 'Mathia (sie/ihr)' stand
darauf. Karian tippte 'Karian (sey/sem)' in
das Gerät.
Am Tisch bei den anderen musste sey allerdings feststellen, dass
nur ein paar Personen Pronomen zu ihren Namen dazugedruckt hatten. Ein
bisschen hatte sey das befürchtet, sonst hätte vielleicht am Drucker
eine anleitende Notiz dazu gestanden.
"Hi!", grüßte sey. "Ich bin Karian, habe mich kürzlich beworben. Ich bin
nicht Wissenschaftlerin, ich bin nicht-binär und hier um zu sehen, ob
das trans, inter* und nicht-binäre Personen exkludierende Auftreten
durch Unachtsamkeit passiert ist oder
ob ihr ein Team aus Frauen bleiben wollt."
"Oh, bei uns sind auch nicht-binäre Personen", widersprach jemand vom
Tisch. "Natürlich wollen wir."
Zustimmendes Gemurmel. Karian lächelte erfreut.
"Dann wäre vielleicht ein erster Schritt, eure Label mit Pronomina
zu updaten und am Drucker einen Hinweis zu hinterlassen, dass das
erwünscht ist", sagte sey.
"Bis jetzt sind hier alle mit 'sie' zufrieden und dass das bei
dir anders ist, können wir uns sicher merken", sagte
die selbe Person von eben.
"Ehrlich gesagt, ich habe immer Schwierigkeiten mit neuen Pronomina. Das
braucht einige Zeit, bis ich das gelernt habe. Bitte versteh das", sagte
eine andere Person, blickte genauer
auf ser Namensschild. "'Sey' klingt auch noch machbar, da habe ich
Schlimmeres erlebt. Ich bin Lara
und bin im Vorstand. Ich muss eine etwas neutralere Position einnehmen, aber
hoffe, dass du weißt, dass ich trotzdem auf deiner Seite bin."
Das wird ein langer Weg, dachte Karian. "Ich verstehe, dass
Gewohnheiten ändern Zeit braucht." Sey
verzichtete darauf zu erwähnen, dass sey dieses Argument schon fünfzig-und
Male gehört hatte. Auch ließ sey ungesagt, dass es
sich mies anfühlte, indirekt gesagt zu bekommen, Neopronomina seien eine
Zumutung, sey also die Belastung und nicht die Diskriminierung dieser
Welt. Oder dass es bei Pronomina auf Labeln darum ging, dass
sey keine Sonderrolle spielen wollte. Oder dass es nicht darum ging,
dass Gewohnheiten zu ändern schwierig wäre, ja selbst für sem. Es
ging um Einsicht, Akzeptanz, Bemühen, Solidarität.
Sey setzte sich neben Mathia an einen wenig belegten Teil des Tischs.
"Kommst du zurecht?", fragte sie leise.
Karian schüttelte den Kopf.
"Dachte ich mir irgendwie", murmelte Mathia mit einfühlsamen
Klang in der Stimme. "Mir fegt sowas immer wieder die Worte weg, aber
ich spreche das später nochmal an, wenn ich kann."
Sey blickte sich um. Viele saßen an Faltrechnern und arbeiteten an irgendetwas, manche
mit Headset, das sie nach der Begrüßung wieder aufgesetzt hatten. Ein
Mensch stand auf, kam zu Karian herum und fragte, ob er sich dazusetzen
dürfe. Karian nickte lächelnd.
"Hi, Karina! Willkommen bei uns!", sagte der Mensch mit Namen
Elina, wie das Schild verriet.
Ein heißes, unangenehmes Gefühl durchströmte Karian, wie immer, wenn
dies passierte. "Karian", korrigierte sey.
"Den Namen kenne ich gar nicht", erwiderte Elina. "Ist das ein traditioneller
Lobbud-Name?"
Karian schüttelte den Kopf. Es war ein ausgedachter Name, weil es einfach
noch nicht ausreichend Namen ohne Geschlechtsbezug gab.
"Tut mir leid, auf jeden Fall. Ich versuche es zu lernen", sagte Elina. "Kann
ich dich als nicht-binäre Person nach deiner Meinung zu meinem Projekt fragen?"
"Klar, gern!", stimmte Karian erfreut zu. Dazu war sey ja schließlich hier.
"Ich bastele an einer Virtualität, wieder an einem Gesellschaftsexperiment. Nicht-binäre
Personen wünschen sich ja Repräsentation in der Wissenschaft und Kunst und ich
dachte, ich nehme mich dem mal an", leitete Elina ein. "Dabei
geht es darum, dass darin neben Orks, Zwergen, Lobbuds, Elben auch ein weiteres
Volk existiert, das etwa so stark vertreten ist wie Menschen. Es ist
menschenähnlich, aber mit dem Unterschied, dass sie alle kein
Geschlecht, ein Geschlecht dazwischen oder beide Geschlechter haben. Ich bin noch
nicht sicher, wie ich das biologisch repräsentiere. Wenn alle beidgeschlechtlich wären, wäre es
am einfachsten. Was davon klingt für dich als nicht-binäre Person am
besten? Und denkst du, Frannling wäre ein guter Name für das Volk? Eine
Kreuzung aus Frau und Mann."
Karians Freude war völlig verflogen und sey seufzte schwer. Im Inneren
sah sey sich beim Winken und laut Rufen: 'Hallo! Hier bin ich! Ich bin
nicht-binär und ein Lobbud, es braucht keine erfundene Art für mich bitte!'
"Das ganze Konzept macht mich unglücklich. Wie ist das mit den realen
Völkern? Gibt es unter ihnen nicht-binäre Personen? Oder da nur Männer
und Frauen?", fragte Karian.
"Ich hatte zur Vereinfachung an nur Männer und Frauen gedacht. Ich
wollte herausfinden, wie sich die Gesellschaft entwickeln würde, wenn
es ein anderes Volk gibt", sagte Elina. "Ich dachte, das wäre interessant."
"Es ist prinzipiell interessant. Aber zum einen ist es keine Repräsentation. Zur
Repräsentation gehört auch, dass nicht biologistisch gedacht wird. Dass also
Geschlecht nicht durch den Körper bestimmt wird, aber
auch Körper diverser sind und es Abweichungen von den Normvorstellungen
gibt", erklärte Karian. "Zum anderen macht es Personen wie mich sogar
noch unsichtbarer, weil du mich aus den existierenden Völkern ausklammerst, während
du ein eigenes Volk schaffen musst, das mich repräsentiert. Du sagst
damit, ich existiere nicht."
"Es ist doch nur zur Vereinfachung. Aber du hast recht. Repräsentation
ist es nicht. Das sollte ich dann nicht so nennen." Elina wirkte einen
Moment nachdenklich. "Aber ich möchte das Projekt jetzt nicht aufgeben. Ich
arbeite da schon seit einem Jahr dran und irgendwie ist das
ohne mein Steuern einfach in meinem Kopf so entstanden. Ich kann da
nichts für."
Weil du cis-Sexismus und Biologismus internalisiert hast. Du könntest
etwas dagegen tun, dachte Karian. Aber sey hatte keine Kraft einfach
gegen alles anzureden. Vielleicht half ja schon, erst einmal an einem Ansatzpunkt etwas
zu kritisieren.
"Was hältst du von Frannling, die Frage war noch offen. Es sei denn, du
magst darauf keine Antwort geben, weil du das Projekt verdammst." Elina
grinste, als wäre es halb gescherzt.
"Die Endung -ling ist ein Diminutiv. Damit stellst du das neue Volk
als niedlich dar oder sprachlich als weniger wert oder untergeordnet", meinte
sey.
"Meinst du nicht, dass das ein bisschen empfindlich ist?", fragte Elina. "Ich
meine, Lobbuds wurden mal Halblinge genannt."
"Was sie aus genau dem selben Grund nicht mehr werden." Sey war inzwischen wütend und
stand auf. "Ich suche mir was zu trinken."
Am Nachmittag, nachdem sey mit einigen gesprochen hatte, einige Male
'Karina' zu Karian korrigiert hatte, wurde sey das
erste Mal in die Virtualität geführt. Immerhin
war auch ein angenehmes Gespräch über Neopronomina dabei gewesen und
einige über unkritische Themen, wie technische Umsetzung von
Simulationen. Die Einführung leitete Lara, aber es
waren außer sem noch einige andere Neue dabei. Mathia begleitete sem.
Sey bekam eine VR-Brille, die ein bisschen leichter war als sere eigene
daheim, aber trotzdem noch ein spürbares Gewicht mitbrachte. Allerdings
war sie mit einer neuen Technik ausgestattet: Sie scannte die Stärken
serer Brille einmal ein und setzte die Messungen in ein für sem
scharfes Bild um, sodass sey sere Brille nicht auch noch unter der
VR-Brille tragen musste.
Nicht unerwartet zeigte die Virtualität ein relativ klassisches
Stadtbild. Trotzdem war direkt ein Unterschied zu sehen. Alles, was
gut erreicht werden sollte, war eine Spur niedriger: Schalter,
Türklinken, Stufen, Geländer. Immer noch war alles eher auf Menschen ausgelegt, obwohl
Menschen in Fork nicht einmal das mehrheitlich vertretene Volk waren, und
immer noch wurden Personen mit Behinderung nicht mehr als üblich mitgedacht. Karian
hatte Mal eine Virtualität besucht, die den Umbau einer Stadt hinsichtlich
Barrierefreiheit simulierte. Aus einer solchen war der Plan zum
Umbau des Bahnhofs Forks hervorgegangen. Sey lechzte nach einem Projekt, in dem
all die Probleme der Gesellschaft vereint angegangen würden.
"Das Projekt ist als Gegenprojekt zu einer Simulation einer möglichst
utopischen Fiktion hervorgegangen, dem 'Planet der Zukunft'. Dabei
wollen die Herren mit 'utopisch' tatsächlich meinen, was wäre, wenn
sich alles zum Besseren entwickelt, welche Stellschrauben wir dafür
drehen müssten", leitete Lara ein. "Allerdings sitzen im Team natürlich
wieder nur Männer. Daher haben wir ein Gegenprojekt gestartet, aus
dem wir Männer ausschließen, das also nur von Frauen geleitet
wird. Die Idee dahinter ist, zu sehen, wie ein Leben ohne Patriarchat
wäre. Zu diesem Zweck werden auch keine Männer simuliert. In Simulationen lässt sich glücklicherweise
der Fortpflanzungsprozess umgehen. Nachkommen können einfach gespawnt
werden."
Eigentlich hatte Karian sich vorgenommen, dieses Mal zunächst
nur zuzuhören. Es war kaum aushaltbar. Sey riss sich trotzdem
zusammen.
"Wir sind ein Team aus Wissenschaftler_innen der Informatik, Physik,
Biologie, Psychologie und Soziologie, sowie ein paar Autorinnen, wie
zum Beispiel Mathia. Sie schreibt Berichte über das, was hier
passiert, manchmal auch literarisch zu Geschichten oder Theaterstücken
ausgearbeitet", fuhr Lara fort. "Wir wollen zeigen, was das Patriarchat unsichtbar macht,
also was eine weibliche Welt zu bieten hat."
Karian seufzte tief. Mathia blickte sem an und sie tauschten einen
leidenden Blick. Einen Augenblick lenkte Karian die Präzision der
in der Virtualität abgebildeten Mimik ab.
"Ich wollte eigentlich nur zuhören", sagte Karian. "Aber es trifft mich
doch, dass hier von 'weiblich' als das gesprochen wird, was vom Patriarchat
versteckt wird, ohne andere Probleme zu benennen. Das ist zwar
vielleicht Teil davon, aber nicht alles. Mich
trifft, dass zum Beispiel nicht-binäre Geschlechtsidentitäten in deiner Darstellung
völlig ausgeklammert bleiben."
Lara pausierte ihren Monolog und dachte einige Momente
nach, blickte Karian freundlich an. "Ich dachte mir schon, dass du das
ansprechen würdest", sagte sie. "Es tut mir leid. Ich
habe Legasthenie und damit zusammenhängend auch Probleme, Sprechgewohnheiten
zu ändern. Ich habe das einfach noch nicht so drauf, jedes Mal den
Gap mitzusprechen und von Autor_innen oder Wissenschaftler_innen
zu reden."
"Das ist überhaupt nicht der Punkt!", beschwichtigte Karian. "Dass
für manche Personen das Ändern von Sprechgewohnheiten langsam geht, ist
mir klar. Aber wenn dir das Problem bekannt ist und ich als nicht-binäre
Person daneben stehe, warum muss ich das ansprechen?"
"Uns ist das Problem bekannt", sagte Lara in betont entspanntem Ton, der
dadurch eigentlich noch weniger entspannt klang, als wäre sie einfach
frustriert gewesen. "Wir haben
auch schon ein zweites Projekt konzipiert. Es wird 'Dritter
Planet' heißen in Anlehnung an das dritte Geschlecht. Es ist der
gleiche Ansatz wie 'Planet der Frauen', nur dass darin nur nicht-binäre
Personen simuliert werden."
Wieder fielen Karian so viele Elemente ein, die daran falsch waren. 'Drittes
Geschlecht' zum Beispiel. Oder der Umstand, dass in 'Erst nur Frauen, dann
nur nicht-binäre Personen' das Narrativ steckte, sich erst um das
wichtigere Problem zu kümmern.
"Das würde immer noch trans maskuline Personen und inter* oder
trans Männer unsichtbar machen", sagte Karian stattdessen.
"Trans Männer simulieren wir ja auch nicht", antwortete
Lara.
Sie blickten sich einige Momente verständnislos und wütend an.
"Hier geht es nur um Nicht-Männer", fuhr Lara fort. "Wenn du
damit ein Problem hast, dass wir trans Männer ausschließen, dann
hast du das Konzept nicht verstanden. Sie sind schließlich auch
Männer und daher privilegiert."
Karian schüttelte den Kopf langsam und loderte innerlich.
"Ob ihr euch irgendwann Mal die Zeit genommen habt, die Lebensrealität
einer trans maskulinen Person, eines inter* oder trans Mannes
anzusehen?", fragte Karian. "Und wie ihr darauf kommt, dass ich nicht
trans maskulin wäre, was ich meistens bin!"
"Bist du?", fragte eine bislang unbeteiligte Person, die
sich auch beworben hatte. "Aber ich schätze, du bist nicht gemeint. Du
bist weiblich gelesen und daher auch vom Patriarchat betroffen."
"Genau! Danke", bestätigte Lara.
"Vom Patriarchat doppelt getroffen zu sein, trifft auf alle
trans maskulinen Personen zu!", rief Karian, "Ich jedenfalls
trete in diesen Verein nicht ein, wenn ihr nicht auf die Reihe
bekommt, Perspektiven entsprechend marginalisierter Personen
tatsächlich in Betracht zu ziehen."
"Ich muss zugeben", leitete Lara ein, sanft, aber mit einer
Aggressivität, die Karians Wut noch übertrumpfte, "dass ich
mit deinem Ton nicht arbeiten kann. Du bist nicht einmal dabei
und stellst schon Forderungen. Das ist passiv-aggressiv und fühlt
sich für mich an, als würdest du das Team in die Ecke drängen
und uns keine Wahl lassen. Wenn wir nicht machen, was du willst, sind
wir für dich halt raus."
Matti legte das EM-Buch ins Gras neben sich.
"Mir wird so schlecht, wenn ich das lese", sagte sie.
"Dass Mathia das im Nachhinein wirklich aufschreiben konnte, bewundere ich", merkte
Lun an. "Zehn Jahre. Wie haben sie es zehn Jahre nicht auf die Reihe gekriegt, diesen
längst mehrfach aufgedröselten, binären, biologistischen, terfigen Müll loszuwerden. Der
Text von Fled, den wir davor hatten, der das dekonstruiert, war doch
zehn Jahre älter, oder?"
"Ja", murrte Matti, "war er." Sie seufzte und
legte sich in die Wiese. Sie fühlte sich wütend, aber auch freier. Sie war nicht-binär
und konnte einigermaßen sicher sein, dass ihr kein binäres Geschlecht
angedichtet wurde, obwohl sie das Pronomen 'sie' bevorzugte. "Auch finde ich
die Frage interessant, wie es nach all der Zeit zu einer Auflösung dieser Probleme und dieses Denkens
kam."
Wie kam es dazu? Bitte, liebe Lesenden! Ich möchte das wissen. Von euch!